Inspirationen zu strategischem Denken, Handeln und Führen

Das Problem ist nicht die Strategie, sondern das, was wir über sie denken

 Strategie wird oft als Plan verstanden – als ein vorgezeichneter Weg in die gewünschte Zukunft, der dann „planungssicher“ nur noch umgesetzt werden muss. So entsteht zunächst eine Orientierungsillusion, die als solche schnell an der komplexen Realität scheitert.

„Es gibt keine Algebra des Handelns, um Handlungen logisch auf einen Endzustand hin zu verknüpfen.“
So soll es bereits Clausewitz formuliert haben. Wenn diese Art von Planung unmöglich erscheint, wird es auch mit der Strategie und unseren Vorstellungen davon schwierig.

Ich plädiere für ein anderes, tiefergehendes Verständnis von Strategie. Strategie sollte als fortwährender Prozess strategischen Managements begriffen werden, der immer wieder bestmögliche Antworten auf grundlegende Fragen sucht: Welche Art von Team, Organisation oder Unternehmen sind wir – und was wollen wir in Zukunft sein? Was ist unser Beitrag zur Wertschöpfung, für wen, heute und morgen? Wie gestalten sich unsere Prozesse der Wertschöpfung und unser Geschäftsmodell, gegenwärtig und zukünftig? Welches Potenzial sehen wir, und wie wollen wir es nutzen, jetzt und in der Zukunft? Warum und wozu gibt es uns überhaupt?

Dies sind die großen offenen Fragen, die als Ausgangspunkt für strategische Überlegungen dienen. Sie können niemals vollständig beantwortet werden, liefern aber dennoch Orientierung und reduzieren Komplexität, indem sie aus zahlreichen Möglichkeiten selektive Entscheidungsprämissen herausfiltern. Strategisches Management ist das Gestalten dieses Prozesses. Es schafft durch das wiederholte Verbinden von Denken, Handeln und Führen stets neue Realitäten.

Soziale Imperative strategischen Managements

Ich bin immer wieder verwundert, wie wenig Aufmerksamkeit die Fachliteratur und die Praxis des strategischen Managements dem sozialen Aspekt, dem zwischenmenschlichen Zusammenwirken, widmen. In Themenfeldern wie Organisationsentwicklung und Change-Management, die oft getrennt von der Strategie bearbeitet werden, sieht die Situation zwar anders aus. Nach meiner Erfahrung sind diese drei Bereiche jedoch in der Praxis sehr eng miteinander verbunden. Jede Form von strategischem Management bedingt eine Entwicklung der Organisation und führt zu Veränderungen bei Struktur und Abläufen.

In Anlehnung an den Grundsatz des Agile Manifesto „Individuen und Interaktionen über Prozessen und Werkzeugen“ möchte ich hier die Bedeutung von zwischenmenschlichen Phänomenen und Kommunikation im strategischen Management hervorheben. Der Erfolg agilen strategischen Vorgehens hängt stark von der Fähigkeit ab, soziale Strukturen und Prozesse so zu gestalten, dass vertrauensvolle, lebendige Zusammenarbeit und konstruktiver Dialog ermöglicht werden. Die Verbindung von Agilität mit strategischem Vorgehen zielt auch darauf ab, soziale Kompetenzen zu stärken, die für das Navigieren in einem dynamischen Umfeld unerlässlich sind. Indem ein Umfeld des offenen Dialogs und einer engen, vertrauensvollen Kooperation gefördert wird, schafft man die Basis für Anpassungsfähigkeit und langfristigen Erfolg in einer sich dynamisch verändernden Umwelt.

Doing Agile versus Being Agile: Methoden machen keine Haltung

Im Buch beziehe ich mich immer wieder auf Agilität im strategischen Management. In der Beratungspraxis bemerke ich bei Führungskräften manchmal die Hoffnung und den Wunsch, dass die Einführung agiler Methoden allein schon Agilität hervorbringt. Jedoch führt dieses Missverständnis oft dazu, dass agile Methoden unreflektiert übernommen werden, ohne sie dem organisatorischen Kontext anzupassen oder ihre tiefere Bedeutung zu ergründen. Agiles strategisches Management setzt mehr voraus als das „Doing Agile“, also eine bloße Umsetzung agiler Methoden und das damit verbundene Implementieren agiler Werkzeuge.

„Doing Agile“ fokussiert auf formelle Aspekte der Agilität, etwa das Setzen agiler Regeln, das Einrichten von Sprints oder die Nutzung von Kollaborationssoftware. Ich erlebe leider immer wieder eine Checklisten-Mentalität, die agile Praktiken zu abhakbaren Aufgaben degradiert, statt sie als Mittel zur Förderung echter Verbesserungen zu begreifen. So bleibt der Ansatz oberflächlich und bewirkt keine nachhaltige Veränderung im Verhalten. „Agilität“ als „neue Herangehensweise“ kann dann nur scheitern. Ohne gründliche Einsicht in und echtes Engagement für agile Prinzipien verkommt „Doing Agile“ zu einer halbherzigen Umsetzung, die wichtige Elemente wie Teamdynamik, Kundeninteraktion und adaptive Lernmechanismen außer Acht lässt.

Das weitaus erfolgversprechendere Prinzip „Being Agile“ fordert ein tiefes Verständnis und Engagement für die Prinzipien der Agilität. „Being Agile“ ist eine Einstellung und Denkweise, die auf Werten wie Kundenzentrierung, Iteration, Probieren und Lernen, Partizipation, Co-Kreation, Wirkungsorientierung und dem Streben nach greifbaren Ergebnissen basiert. Agiles strategisches Management integriert diese Werte in Entscheidungsprozesse und die täglichen Abläufe. So entsteht eine Umgebung, in der Resilienz gegenüber VUCA, Anpassungsfähigkeit und Zielorientierung gefördert werden.

Facetten strategischen Managements für eine Zukunft, die nicht planbar ist

In diesem Buch lernst du verschiedene Perspektiven auf typische Herausforderungen strategischen Managements kennen. Das kann dir dabei helfen, dich den Bedingungen einer Welt voller Unsicherheit und schneller Veränderungen anzupassen, dennoch deine Ziele zu verwirklichen und die Orientierung nicht zu verlieren. Unabhängig davon, welche Themenbereiche oder Aspekte du näher betrachtest, wird dir bewusst werden, wie wichtig ein solides Verständnis der Grundlagen – angefangen beim Erkennen dynamischer und disruptiver VUCA- und BANI-Umwelten – für die strategische Orientierung und Navigation ist.

Du wirst die Bedeutung von Agilität, klaren Visionen und robusten strategischen Vorgehensweisen sowie die Effektivität von iterativen Entscheidungsprozessen und analytisch-intuitivem Handeln besser einschätzen. Der Effectuation-Ansatz zeigt dir zudem, wie man auch in unsicheren Zeiten Chancen ergreift, und du verstehst, worauf es bei strategischem Leadership ankommt. Die Rolle von Lernprozessen und Anpassung für die Strategieentwicklung sowie das vorausschauende Planen wird dir ebenfalls bewusst. Du erkennst die Bedeutung von strategischen Erzählungen und wie Paradoxien strategische Innovationen fördern können. Auch die Wirkung und deren Messung als Teil strategischen Handelns wird dir klarer. All dies kann dich befähigen, zukünftig in deinem Bereich strategisch zu denken und zu handeln.

Alle Rezepte sind falsch, manche sind hilfreich

Als Leserin oder Leser dieses Buches wirst du feststellen, dass die vorgestellten Beispiele, Übungen und praktischen Ansätze keine unumstößlichen Wahrheiten bereithalten, denn eine solche Einheitslösung passt nicht in die vielfältige und herausfordernde Welt des strategischen Managements. Stattdessen lade ich dich ein, diese Inhalte als konkrete Inspirationen und hilfreiche Anregungen zu betrachten. Sie sollen dir dabei helfen, wichtige Aspekte in deinem eigenen strategischen Management zu beleuchten und praktische Lösungswege zu finden. Sieh sie als Ausgangspunkte für deine Überlegungen und Handlungen, die flexibel an deine spezifischen Herausforderungen angepasst werden können. Es ist die Kombination aus deinem Wissen, deiner Erfahrung und den hier angebotenen Anregungen, die zu wirksamen Strategien führt – maßgeschneidert auf deine Ziele und die einzigartigen Umstände und Herausforderungen, denen du dich gegenübersiehst.

 

Fallbeispiele

 

Fallbeispiel Agilität: Prinzipien und Werte

Es ist einer dieser heiß-schwülen Sommertage in Bonn Ende der 1990er Jahre. Einige seriös wirkende Menschen in Geschäftskleidung stehen mit einigen meist jüngeren, eher lässig gekleideten Frauen und Männern in einem provisorisch wirkenden Besprechungsraum. An den Wänden hängen beschriebenes Flipchart-Papier, Ausdrucke von Statistiken und Zettel mit Notizen, auf den Tischen stehen Laptops, Kaffeetassen und Teller mit Essen vom Lieferdienst. Die Beteiligten sind in intensive Diskussionen um Kundenprojekte, Umsatz- und Sachkosten, Produktfeatures und Probleme im technischen Betrieb vertieft.

Wir begegnen hier dem Business-Unit-Team Internet Service Provision, das ich nach meiner Zeit in der Telekom-Konzernstrategie leiten durfte. Unser Auftrag lautete: die Telekom gegen am Markt etablierte Wettbewerber zum führenden Anbieter für Internet-Dienste bei Geschäftskunden zu machen. Von 0 auf 100, oder anders ausgedrückt: ein Umsatzwachstum von einigen zehntausend D-Mark Umsatz im Jahr 1997 auf einen mittleren fünfstelligen Millionenbetrag im Jahr 2001.

Dieses Geschäftsfeld, Anfang 1997 gegründet, war komplett neu, die Produkte und Services waren jedoch bereits – zumindest in PowerPoint – als strategische Zukunft skizziert: Intranet, Extranet, Breitbandzugänge, Internet via DSL oder Mobilfunk und auch internetbasierte Streamingdienste; alles bereitgestellt von der Telekom als dem führenden Internetanbieter. Die Business Unit erhielt eine Art Sonderstatus: »Macht, was ihr für richtig haltet, solange ihr eure Ziele erreicht. Dafür bekommt ihr jede notwendige Unterstützung«, war die Zusage des Top-Managements. Wir gingen mit Begeisterung und höchster Motivation an die Arbeit: Dazu entwickelten wir zusammen mit Kunden Produkte nach dem Prototyping- und Working-Backward-Konzept, verkürzten den Vertriebseinführungsprozess zusammen mit den Kollegen aus Rechnungsstellen, Entstörung und Betrieb von zwei Jahren auf zwei Monate, führten die ersten Intranets in Deutschland mit Topkunden wie BMW oder der Allianz ein, implementierten DSL als neuen Breitbandanschluss zusammen mit T-Online und mobile Datensysteme mit T-Mobile sowie erste Streaming-Angebote mit der Kirch-Gruppe. Wir führten unzählige Gespräche mit internen Kollegen, Kunden, Lieferanten, Wettbewerbern und gaben Vertriebsschulungen. Gleichzeitig spürten wir heftigen Gegenwind aus der traditionellen Organisation, die ihren Kernauftrag im Bereitstellen von Telefonanschlüssen sah.

Parallel bauten wir ein höchst diverses Team auf, in dem Jung und Alt, Technikerinnen, BWLer, Juristinnen, Pädagogen und Soziologinnen genauso vertreten waren wie Beamte und Mitarbeitende von Wettbewerbern oder aus anderen Ländern. Wir schmiedeten viele Pläne und verwarfen sie zugunsten neuer Pläne gleich wieder. Wir machten ebenso viele Fehler, korrigierten diese meist schnell (Start-Stop-Keep). Auf diese Weise gestalteten wir eine sehr steile Lernkurve für unser Team, aber auch für unsere Kunden und unser organisatorisches Umfeld. Im Jahr 2001 hatten wir unsere Ziele weitgehend erreicht, die Telekom hatte die führende Position im Business-Internet-Segment. Und es gab auf Basis unserer Arbeit erste Überlegungen für die Ablösung des Fest- und Mobilfunknetzes durch ein All-Internet-Network (das heute in Betrieb ist).

Aus dieser Zeit habe ich vor allem folgende Dinge gelernt:

  • Die notwendige Veränderung wesentlicher Teile der alten Organisation und Prozesse konnten wir nicht per Dekret oder Fakten, sondern ausschließlich durch Begeisterung im Team für unsere Sache, vielen persönlichen Gespräche, Transparenz, Offenheit und Vertrauensarbeit erreichen.

  • Mit dem Fokus auf immer wieder neue, wenige implementierte, dafür funktionierende und vorzeigbare Produktfunktionalitäten waren wir erfolgreicher als mit umfassenden Releaseplänen, was wir alles noch machen wollen würden und könnten.

  • Die vertrauensvolle, konkrete Einbindung unserer Kunden aus den jeweiligen Produktsegmenten bei der Produktentwicklung brachte uns schneller voran als die von einigen Vertrieblern und AGB-Juristen oft gewünschte vertragliche Kundenbindung und Absicherung durch Abschottung.

  • Wir hatten eine Vision, ein Bild vor Augen. Internet: Anywhere, Anytime, Any Device. Und auch eine Strategie (und sogar einen offiziellen Fake-Fünf-Jahres-Strategieplan für die Unternehmensplanung als brauchbare Illegalität), die jedoch mehr ein grober Zielkorridor als ein Plan war. Aufgrund der Dynamik und Komplexität war konkretes Arbeiten nur auf Sicht möglich, d. h. wir sind explorativ vorgegangen und haben mit Drei-Monats-Planungsintervallen und mit Zielen gearbeitet, die mehr auf Fertigem, Implementiertem, Funktionierendem und weniger auf gemachten Aktivitäten beruhten. Die Strategieumsetzung im dynamisch-komplexen Umfeld funktionierte, weil sie Teil eines eng gekoppelten und immer wieder aufs Neue angepassten Prozesses war.

  • Mit unserer Arbeit als eine Art internes Start-up hatten wir – zum Teil gegen heftigen Widerstand – die sehr traditionelle Kultur und das damit verbundene Geschäftsmodell herausgefordert, gleichzeitig benötigten wir die Kooperation wesentlicher Akteure des Unternehmens für eine erfolgreiche Umsetzung. Grundlegende Änderungen auch in der sehr starren Unternehmensorganisation waren möglich und skalierbar, weil das gewünschte Neue von jedem einzelnen Mitglied unseres Teams begeistert gelebt, aktiv mit Multiplikatoren in der Linienorganisation vernetzt und vor allem nahezu vorbehaltlos vom Top-Management unterstützt wurde.

Heute weiß ich, dass wir damals intuitiv und weitgehend nach agilen Prinzipien und Werten gehandelt haben und erfolgreich waren – ohne bewusst ein einziges agiles Tool zu kennen.

 

Fallbeispiel Agilität: Das Gute im Schlechten

Eine Klientin und Freundin von mir betreibt in Norddeutschland einen Catering- und Event-Service auf dem Land. Mit ihrem Geschäftspartner hatte sie vor einiger Zeit einen Gutshof gekauft und mit viel Aufwand und Liebe zu einer Eventlocation für Hochzeiten, Familien- und Firmenfeste umgebaut. Das Geschäft lief gut; der Betrieb, in dem eine Handvoll Festangestellte und eine Reihe freiberuflicher Servicekräfte tätig waren, war fast ganzjährig ausgebucht.

Der Corona-Lockdown im März 2020 war für das Unternehmen meiner Klientin ein genauso harter Schlag wie für die gesamte Eventbranche. Alle Veranstaltungen mussten abgesagt werden, das Catering-Geschäft lief mehr als schleppend. Zugleich waren Kredite zu tilgen und Mietkosten zu bezahlen, einigen Mitarbeitenden musste gekündigt, andere mussten in Kurzarbeit geschickt werden.

Als ich zufällig während des Lockdowns an dem Gutshof vorbeifuhr, sah ich auf dem Parkplatz mehrere Wohnwagen und Camping-Mobile stehen und war sehr verwundert. Was war geschehen? Später am Tag rief ich meine Klientin an und erfuhr, dass sie aus der Not eine Tugend gemacht und kurzerhand in die Tat umgesetzt hatte, was unter Einhaltung der Hygieneregeln möglich war.

Wenn die Menschen nicht mehr zu Feiern zusammenkommen dürfen, der Urlaub ausfällt und Restaurants geschlossen sind, verschwindet nicht zugleich das Bedürfnis und die Sehnsucht nach Abwechslung oder einem schönen kulinarischen Erlebnis; im Gegenteil. Warum dann nicht, so dachte meine Freundin, den Wohnwagen oder das Camping-Mobil zum eigenen Restaurant machen? Die Idee zum Wohnmobil-Dinner war geboren, mit Schlemmer-Menüs in mehreren Gängen, Candle-Light-Dinner und weiteren Spezial- und Motto-Angeboten als Rundumservice mit Speisen und Getränken direkt zum Wohnwagen oder Camping-Mobil. Man organisierte eine Stromversorgung zum Parkplatz, machte etwas Werbung in den sozialen Medien und das Angebot entwickelte sich zu einem Renner über die Region hinaus. Für die Camper-Community wurde es zu einem absoluten Highlight. Auf Wunsch konnte direkt auf dem Platz übernachtet werden, inklusive Frühstück oder Brunch am nächsten Morgen.

Meiner Klientin ersetzte dieses Modell in der Zeit des Lockdowns nicht ihr reguläres Geschäft, aber es war ein ansehnlicher Ausgleich. Hinzu kamen die viele gute Presse und ein deutlich gestiegener Bekanntheitsgrad, der sicherlich auch nach der Pandemie noch nachhallen wird.

Ich halte dies für ein schönes und einfaches Beispiel, wie sich auf der Basis einer agilen Haltung aus der Not eine Tugend machen lässt.